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Einflussreiche Marketingkampagnen in der Geschichte – Teil 2: Milady Décolleté

Wie verkauft man eigentlich ein Produkt an eine Zielgruppe, die auf Anhieb nichts damit zu tun haben möchte? Vor gut 100 Jahren gelang Gillette genau das. Trotz der Tatsache, dass in den Vereinigten Staaten im Jahr 1915 ein grosses gesellschaftliches Tabu rund um die Damenrasur bestand, gelang es dem Unternehmen, erstmals den Rasierer an die Frau zu bringen. Wie es das geschafft hat? Das schauen wir uns in diesem zweiten Teil der Serie “Einflussreiche Marketingkampagnen in der Geschichte” an.

Es war das Jahr 1915, als die Marke Gillette, die bis dahin ausschliesslich Männerrasierer verkaufte, zum ersten Mal Werbung für einen Damenrasierer machte. Ein gewagter Schritt, der die damaligen Schönheitsnormen und sozialen Konventionen ganz schön ins Wanken brachte. Bis anhin war es gesellschaftlich nämlich alles andere als üblich, dass Frauen sich rasierten. Der Grund: Die langärmlige und oft knöchellange Kleidung, die Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblicherweise trugen, machte das Entfernen der Körperbehaarung schlicht überflüssig.

Das Aufkommen neuer Mode gegen Ende der 1910er änderte das jedoch. Nicht nur der Rock wurde zunehmend kürzer, sondern auch die langen Ärmel verschwanden. Besonders bei der Abendkleidung lagen ärmellose Outfits zu Beginn der 1920er Jahre absolut im Trend – und die bargen das Risiko, nicht nur zu viel Haut, sondern auch zu viel Haar zu zeigen.

Gillette sah darin eine Gelegenheit. Um ungewolltes Körperhaar diskret zu entfernen, stellte der Rasierer-Hersteller eine Lösung vor: den Milady Décolleté. Dieser erste Damenrasierer war speziell für die Entfernung von Achselhaaren vorgesehen, und löste damit das Problem, das durch den neuen Trend der ärmellosen Mode entstanden war.

Das klingt auf den ersten Blick sehr einleuchtend. Gillette findet eine Lösung für ein neu entstandenes Problem und möchte diese verkaufen. Doch es gab auch einige Hürden zu meistern: Das gesellschaftliche Tabu der Frau, die sich rasiert, war in den 1910er Jahren nämlich sehr gross. Rasierer waren Gegenstände, die ausschliesslich von Männern für die Bartrasur benutzt wurden, und hatten somit eine sehr maskuline Aura. Wie also hat Gillette es geschafft, einen Rasierer an eine Zielgruppe zu verkaufen, die mit Rasierern eigentlich nichts zu tun haben sollte?

Ein absolutes Must-Have für die moderne Frau

Tatsächlich machte Gillette von einem Prinzip gebrauch, das bis heute im Marketing unerlässlich ist: Vermarket wurde nicht das Produkt, sondern das Narrativ rund um das Produkt. Das Problem war schliesslich nicht der Rasierer selbst, sondern die gesellschaftliche Assoziation des Rasierens mit einer maskulinen Norm. Dass Gillette dieses Narrativ verändern wollte, kann man bereits in der allerersten Werbeanzeige für den Milady Décolleté im Jahr 1915 beobachten.

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Quelle: blog.hubspot.com

Sowohl der grossgedruckte Titel «Ein einzigartiges Geschenk für Frauen» als auch der Name des Rasierers «Milady Décolleté» machen auf Anhieb deutlich: Dieses Produkt ist speziell für die Frau gemacht. Nach maskulinen Assoziationen sucht man hier vergebens. Diese Ad steht ganz im Zeichen der Frau – oder, um genau zu sein, der modernen Frau.

Wie die Ad Copy die Leser:innen nämlich wissen lässt, wird der «hochaktuelle» Milady Décolleté von Frauen aus aller Welt als Merkmal der guten Körperpflege willkommen geheissen – jetzt, da es zur guten Manier gehöre, die Achseln glatt zu halten. Die Botschaft dahinter: Wer modern sein und dazugehören möchte, besitzt den Milady Décolleté. Wie Gillette hier so geschickt erwähnt, sind glatte Achseln nämlich der neue Trend. Und der Milady Décolleté löst gemäss der Anzeige das «peinliche persönliche Problem» der Körperbehaarung mit diesem ersten Rasierer speziell für Damen.

Wir können also festhalten: Mit der ersten Anzeige für den Milady Décolleté beeinflusste Gillette das Narrativ rund um den Rasierer für Frauen. Wo das Rasieren bis anhin kaum eine Option für Frauen darstellte, bestand Gillette nun darauf, dass jede moderne Frau einen Milady Décolleté bei sich zu Hause haben sollte. Mehr noch: Die Kampagne machte ihre Zielgruppe darauf aufmerksam, dass unrasierte Achseln ein Problem darstellten – und das, obwohl sie bis anhin die Norm waren.

Vom No-Go zum absoluten Trend

Aus einer modernen Perspektive ist dieser letzte Teil vielleicht etwas schwer verdaulich. Eine Ad, die weibliche Körperbehaarung als “peinliches persönliches Problem” illustriert, würde es heute bestimmt nicht sehr weit bringen.

Tatsächlich illustriert dieses Beispiel aber gerade den gewaltigen Einfluss, den diese und andere erste Werbekampagnen für Damenrasierer auf die Gesellschaft hatten. Durch die Neuinszenierung nicht nur des Rasierers, sondern der Praxis des Rasierens für Frauen an sich, wurden das gesellschaftliche Tabu innert kurzer Zeit zum absoluten Muss.

In den Jahren und Jahrzehnten nach der Einführung des Milady Décolleté breitete sich das Konzept des Damenrasierers in der westlichen Welt immer weiter aus. Andere Unternehmen erkannten das Potenzial dieses wachsenden Marktes und stiegen ebenfalls in die Produktion von Damenrasierern ein. Und rasiert wurde längst nicht mehr nur unter den Achseln. In den 1940er Jahren wurde die Beinrasur für Frauen in den USA zum Trend, und ein gutes Jahrzehnt später ebenfalls zur gesellschaftlichen Norm. Die Marke Gillette blieb während all dieser Zeit präsent auf dem Markt und stellte immer wieder neue innovative Konzepte rund um die Damenrasur vor.

Vor rund 20 Jahren wurde im deutschen Raum schliesslich die Marke Gillette Venus lanciert. Was ins Auge sticht: Der Fokus der Marke liegt wiederum auf dem Narrativ rund um die moderne junge Frau, die sich rasiert. Genau wie vor über 100 Jahren setzt das Unternehmen Gillette seinen Schwerpunkt auf die gesellschaftlichen Konnotationen rund um die Rasur, anstatt einfach den Rasierer an sich zu bewerben. Und so, wie sich die moderne junge Frau im Laufe der Zeit gewandelt hat, hat sich das Narrativ von Gillette im Laufe der Zeit angepasst.

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Quelle: www.gillettevenus.de

Im Jahr 2006 beispielsweise ging Gillette Venus eine Partnerschaft mit der bei jungen Frauen beliebten Fernsehsendung Germany‘s Next Topmodel ein und traf damit genau den Nerv der Zeit. Im Fokus des Brand-Deals stand die Assoziation von glattrasierten Beinen und weiblicher Schönheit, wie auch der damalige Slogan «Erwecke die Göttin in dir» deutlich machte.

Mittlerweile jedoch hat sich ein weiterer Wandel in der Gesellschaft getan, und viele junge Frauen hinterfragen vorgefertigte Konzepte weiblicher Schönheit. Dementsprechend wirbt Gillette Venus heute mit dem Narrativ von Selbstakzeptanz und Inklusion. Mit dem Motto «My skin. My way.» und der gezielten Abbildung von Menschen jeder Grösse, Form und Hautfarbe verdeutlicht Gillette Venus, dass sie sich dem Zeitgeist angepasst hat – und so einmal mehr voll im Trend liegt.

Wie sehr hat das Marketing von Gillette die Welt von heute tatsächlich geprägt?

Wie gross der Einfluss von Gillette auf die wachsende Beliebtheit der Damenrasur in den letzten 100 Jahren tatsächlich war, ist schwierig zu sagen. Es gibt Stimmen, die meinen, Gillette und andere Rasierer-Hersteller hätten in den frühen 1920ern überhaupt erst ein Bedürfnis für Damenrasierer in der Gesellschaft geschaffen, während andere glauben, dass der Damenrasierer auch ohne grosses Marketing früher oder später das Licht der Welt erblickt hätte.

Was jedoch gesagt werden kann, ist, dass Gillette ein mögliches Bedürfnis in der Gesellschaft früh erkannt und die Gelegenheit für sich ergriffen hat. Um seine Zielgruppe von dem so neuartigen Produkt zu überzeugen, berief sich das Unternehmen auf ausgeklügelte Marketingstrategien, die das Narrativ rund um die Damenrasur von Grund auf veränderten und so den Weg für den Damenrasierer ebneten.

Besonders spannend ist dabei, dass das Unternehmen diese Strategie bis heute für sich nutzt. Obwohl sich die Wertvorstellungen der Zielgruppe von Gillette immer wieder gewandelt haben, konnte das Unternehmen mithalten. Egal ob Einzigartigkeit, Schönheit oder Aktualität im Fokus liegen – Gillette nimmt gesellschaftlich präsente Themen auf, und nutzt sie, um das Narrativ rund um die Damenrasur neu zu gestalten. Dass diese Rechnung aufgeht, beweisen die letzten 100 Jahre Marketinggeschichte des Unternehmens.

Michelle Fischer

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